Wie sich das Kammergericht als Sprachrohr der Exekutive bloßstellt

via Fassadenkratzer

„Das Kammergericht Berlin entpuppt sich in seiner Entscheidung vom 18.09.2025 (Az. 10 U 95/24), die dem Autor vorliegt, als Sprachrohr der Exekutive. Es treibt die Verengung des Meinungskorridors weiter voran und erschwert damit die Aufarbeitung der Corona-Maßnahmen.“ Mit diesen Sätzen leitet Dr. Manfred Kölsch, ehemals Vorsitzender Richter am Landgericht, seinen nachfolgenden Artikel ein, den wir mit seiner freundlichen Erlaubnis übernehmen. Immer mehr Gerichte geben ihre rechtsstaatliche Rolle als Korrektur von Legislative und Exekutive auf und hängen ihre Fahne in den politischen Wind. (hl)   

Von Dr. Manfred Kölsch
Zur erstinstanzlichen Entscheidung

Das Landgericht Berlin II hatte in einem Fall darüber zu entscheiden, ob durch LinkedIn, mit ca. 774 Millionen Mitgliedern in 200 Ländern eines der größten sozialen Netzwerke, das LinkedIn-Profil des Klägers sowie drei Einträge, die sich u. a. mit Nebenwirkungen der Covid-Impfungen und der Verfassungswidrigkeit der Impfpflicht befassten, gelöscht bzw. gesperrt werden durften. In der erstinstanzlichen Entscheidung wurde die Sperrung des LinkedIn-Profils des Klägers aufgehoben. Die Löschung der drei Einträge wurde jedoch für rechtmäßig erklärt. Wegen Einzelheiten wird auf die vom Netzwerk Kritische Richter und Staatsanwälte (KRiStA) am 08.07.2024 veröffentlichte Entscheidungsbesprechung des Autors verwiesen.

Zum zweitinstanzlichen Verfahrensstand

Nun hat das Kammergericht die Berufung des Klägers mit dem Ziel, auch die Löschung der drei Beiträge rückgängig zu machen, zurückgewiesen. Auf die Anschlussberufung von LinkedIn wurde, entgegen der Entscheidung des LG Berlin II, auch die Sperrung des gesamten Profils des Klägers für rechtens erklärt.

Aus hier nicht im Vordergrund stehenden Erwägungen hat das Kammergericht festgestellt, die Allgemeinen Geschäftsbedingungen/Community-Richtlinien von LinkedIn lägen dem Vertragsverhältnis mit dem Kläger zugrunde, und deren inhaltliche Wirksamkeit sei an den Regeln des Digital Services Act (DSA) zu messen. Danach enthielten die Beiträge „irreführende Inhalte(n) im Sinne der Community-Richtlinien”, weil sie „direkt im Widerspruch zu den medizinischen Richtlinien der lokalen Gesundheitsbehörden oder der WHO“ stünden. Ein Zustand, der nach Auffassung des Kammergerichts gemäß den Community-Richtlinien zur Löschung der Einträge berechtigt. (Zu den lokalen Gesundheitsbehörden zählt das Gericht das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) und das RKI.)

Von den zahlreichen durch Literatur und Rechtsprechung belegten Hinweisen des Klägers auf die Rechtswidrigkeit bzw. Unwirksamkeit der Community-Regeln des Beklagten erörtert das Gericht nur wenige, und diese in absolut unzulänglicher Art und Weise.

Zur Transparenz der Community-Richtlinien

Nach Art. 14 Abs. 1 S. 3 DSA sind die AGB „… in klarer, einfacher, verständlicher, benutzerfreundlicher und eindeutiger Sprache abzufassen und in leicht zugänglicher und maschinenlesbarer Form öffentlich zur Verfügung zu stellen“. Überzeugend führt die Berufungsbegründung aus, danach müsse der Nutzer anhand der Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) zweifelsfrei erkennen können, welche Rechte und Pflichten er hat. Es muss vorhersehbar sein, unter welchen Voraussetzungen ein Pflichtverstoß vorliegt, welche Sanktionen dieser nach sich zieht und wie sich der Nutzer gegen eine ihn benachteiligende Entscheidung beschweren kann. Werden diese wichtigen Fragen nicht, nicht ausführlich, widersprüchlich oder generalklauselartig behandelt, sind die AGB unwirksam.

Beispielhaft weist die Berufungsbegründung unter Bezugnahme auf von LinkedIn selbst erstellte Urkunden darauf hin, dass sich aus den AGB nicht ergebe, wann ein Pflichtverstoß zu welcher Sanktion führt. Nicht ersichtlich sei, wann ein wiederholtes Einstellen von Inhalten gegeben ist, das zu einer Einschränkung führt, und wie oft ein Wiedereinstellen erfolgen muss, um berechtigterweise einen Verstoß gegen die Community-Richtlinien annehmen zu können. Bei einem Verstoß gegen die Community-Richtlinien kann nach deren Inhalt „möglicherweise“ und bei gravierenden Verstößen, „eventuell“ auch nach nur einem einzigen Verstoß, ein Konto dauerhaft gesperrt werden. Diese Art der Regelung ist nicht Ausdruck verbindlicher AGBs, die für jedermann in gleicher Weise gelten. Willkürhandlungen durch die Plattform wird die Hand gereicht, weil die Annahme des Vorliegens der Voraussetzungen für eine Kontosperrung entgegen Art. 14 Abs. 1 S. 3 DSA nicht „in eindeutiger Sprache“ geregelt ist.

Die Berufungsbegründung nimmt eine „vollständige Verwirrung“ des Nutzers an, wenn LinkedIn in den AGB festschreibt: „Inhalte, die in der Regel gegen unsere Richtlinien verstoßen, sind möglicherweise in Fällen erlaubt, in denen sie dazu dienen, das Bewusstsein zu schärfen oder etwas zu verurteilen.“ Es bleibt völlig im Dunkeln, wie LinkedIn bewerten will, ob eine Verschärfung des Bewusstseins (wessen Bewusstsein, in welcher Intensität?) eingetreten ist. Diese AGB sind weit entfernt von den Vorgaben des Art. 14 Abs. 1 S. 3 DSA. Eine klare, einfache, verständliche und eindeutige Sprache gemäß dem Transparenzgebot ist nicht gegeben.

Das Kammergericht ist anderer Ansicht. Im Urteil heißt es, ohne auf den Vortrag des Klägers einzugehen: „Die Vorgabe der Verwendung einer klaren, einfachen, verständlichen, benutzerfreundlichen und eindeutigen Sprache im Sinne der Regelung des DSA erachtet der Senat gleichfalls als erfüllt.“ Das Gericht ergänzt: „Auch die Darstellung von Beispielen in den Community-Richtlinien, welche Inhalte als falsch oder irreführend erachtet und entfernt werden, ist in Bezug auf die hier in Rede stehende Regelung klar und eindeutig.“

Dem Kammergericht ist es offensichtlich gleichgültig, ob LinkedIn gegen Art. 14 Abs. 1 S. 3 DSA verstoßen hat. Denn: „Es ist für jeden Nutzer der Plattform der Beklagten ohne weiteres zu ermitteln, welche medizinischen Richtlinien die WHO aufgestellt hat.“ Für den Nutzer sei deshalb zweifelsfrei zu erkennen, mit welchem Eintrag er sich damit in Widerspruch setzt. Ebenso eindeutig seien die Vorgaben von PEI und RKI (den lokalen Gesundheitsbehörden), an denen der Nutzer den Inhalt seiner Einträge ausrichten könne.

Fehlendes Anhörungsverfahren

Unter Bezugnahme auf Meinungen in der Literatur und die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (Urteil vom 29. Juli 2021 – III ZR 179/20, juris, Rn. 87) ist nach Auffassung der Berufungsbegründung – mit Ausnahmen in bestimmten eilbedürftigen Fällen, die in den AGB im Einzelnen aufgeführt werden müssen – der Nutzer vor Sperrung seines Kontos oder Löschung seines Eintrags anzuhören. Eine ohne vorherige Anhörung durchgeführte Sperrung ist danach unverhältnismäßig.

Völlig unreflektiert meint das Kammergericht, die Rechtsprechung des BGH gebe nur die Inhaltskontrolle nach deutschem Recht wieder und sei unter dem Regime des DSA nicht anwendbar. Die von der Berufung zitierten Gegenmeinungen in der Literatur werden als „vereinzelt“ bezeichnet und damit in die Bedeutungslosigkeit verabschiedet. Die Rechtsprechung des BGH nehme eine unzulässige, an deutschem Recht orientierte Auslegung vor. „Das verbietet sich hier allerdings“, meint das Gericht, „da das bundesdeutsche Recht nicht anwendbar ist (…). Im Ergebnis bleibt es dabei, dass ein vorheriges Anhörungsrecht nach den Vorschriften des DSA nicht gefordert wird.“

Das Kammergericht übersieht, dass die Erwägungen, die der BGH anstellt, auch für den DSA gelten. Der DSA sieht es schon nach Art. 1 DSA als maßgebliche Zweckbestimmung an, dass „die in der Charta (Charta der Grundrechte der Europäischen Union; Anm. d. Verf.) verankerten Grundrechte wirksam geschützt“ werden. Art. 5 GG schützt gleichgelagert mit den Prinzipien des Art. 11 der Charta die Meinungs- und Informationsfreiheit. Die vom BGH herangezogenen Argumente zum Schutz der Meinungsfreiheit gelten daher gleichermaßen für den DSA. Deshalb gilt auch unter dem Regime des DSA, dass ein Entzug der Nutzung der Plattform ohne vorherige Warnung und Möglichkeit der Stellungnahme unverhältnismäßig ist. Dies lässt sich auch aus Art. 23 Abs. 2 DSA herleiten. Danach ist der Vollzug von eingehenden Beschwerden „nach vorheriger Warnung“ für eine angemessene Zeit auszusetzen. Die Warnung vor einer Sperrung soll ganz allgemein verhindern, dass die Rechte des Nutzers verletzt werden. Deshalb heißt es in Erwägungsgrund Nr. 63 zu Art. 23 DSA – ganz in gleichgerichteter Intention zu den Erwägungen des BGH – die Rechte des Nutzers, „einschließlich der geltenden in der Charta verankerten Grundrechte und Grundfreiheiten und insbesondere des Rechts auf Meinungsäußerung“ seien durch die Einrichtung entsprechender „wirksamer Vorrichtungen“ zu sichern. Eine vorherige Warnung und Möglichkeit zur Stellungnahme drängen sich auch nach DSA geradezu als „wirksame Vorrichtung“ auf.

Wirksames Beschwerdemanagement ist nicht eingerichtet

Die Berufung begründet einen Verstoß der Beklagten gegen Vorgaben zur Einrichtung und Vorhaltung eines angemessenen und wirksamen Beschwerdemanagementsystems mit dem Hinweis auf Art. 20 DSA. Danach haben Online-Plattformen ein „wirksames Beschwerdemanagementsystem“ zu installieren. Dieses System muss „leicht zugänglich“ und „benutzerfreundlich“ sein.

Der Kläger hat im Einzelnen ausgeführt, dass nach Einlegung eines Einspruchs durch den Nutzer LinkedIn eine E-Mail übersendet mit einem angeblichen Link zu einer Hinweisseite, die den Status des Beschwerdeverfahrens enthalten soll. Der Link führt jedoch lediglich zu einer Fehlerseite ohne Informationen, sodass das Beschwerdeverfahren nicht oder nur unter erschwerten Bedingungen fortgeführt werden kann. Obwohl es offensichtlich ist, dass das Beschwerdeverfahren weder „leicht zugänglich“ noch „benutzerfreundlich“ ist, stellt das Kammergericht die beispielhaft angeführten Fälle als Einzelfälle dar und stellt ohne konkrete Auseinandersetzung mit dem Vortrag des Klägers fest: „Dass dieses Beschwerdemanagementsystem den Anforderungen grundsätzlich nicht gerecht wird, ist nicht ersichtlich.“ Durch die personelle Unterbesetzung von 22 Moderatoren bei 24 Millionen Nutzern wird offensichtlich, dass die Überprüfungen im Wesentlichen mit „automatisierten Mitteln“ durchgeführt werden und entgegen Art. 20 Abs. 4 DSA eine „diskriminierungsfreie, sorgfältige und frei von Willkür“ zu treffende Entscheidung über eine Löschung nicht gesichert ist. Das hat auch schon der EuGH entsprechend den Schlussanträgen des Generalanwalts in seinem Urteil vom 26.04.2022 (Az. C-401/19, juris, Rn. 86) festgestellt. Filtersysteme, die bei der Beklagten wie bei anderen Plattformen wegen personeller Unterbesetzung in großem Maßstab eingesetzt werden, können nicht hinreichend zwischen einem zulässigen und einem unzulässigen Inhalt unterscheiden. Sie sind mit dem in Art. 11 der Charta verbürgten Recht auf freie Meinungsäußerung und Informationsfreiheit unvereinbar. Hierzu meint das Kammergericht lapidar: „Auch eine beanstandete personelle Unterbesetzung (22 Moderatoren bei 24 Millionen Nutzern) erlaubt keine Aussage über die grundsätzliche Geeignetheit des Beschwerdemanagementsystems.“

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